Kapitel 3

Suzanne Duchamp, 1925

Ein radikaler Schnitt und die Abkehr von Dada. Als Suzanne Duchamp der Gruppierung den Rücken zukehrt, werden ihre Bildthemen szenischer. 

Nach dem Ende der Zugehörigkeit zu Dada vollzieht Suzanne Duchamp einen Wendepunkt in ihrem Schaffen und arbeitet fortan überwiegend figurativ. Ab 1922 entstehen Landschaftsdarstellungen, Allegorie-ähnliche Szenerien, Unterwasserwelten, Porträts, Stillleben oder auch Farbexperimente. In unkonventionellen Darstellungen des bürgerlichen Alltags zeigt sich die Künstlerin als feine und hintergründige Beobachterin ihres Umfelds. Mit subtilem Witz und karikierender Schärfe reflektiert sie fortan das Alltägliche und das Zwischenmenschliche. Die Rückbesinnung auf die figurative Malerei geht einher mit einer gestalterischen Emanzipation: Duchamp distanziert sich zunehmend von Gruppen und verfolgt ihren eigenen, farbdynamischen Stil. Die Gründe, warum Duchamp sich 1922 nahezu abrupt von Dada abwandte, liegen im Verborgenen. 

« Warum will man immer alles erklären? »
Suzanne Duchamp

Rückkehr zur figürlichen Darstellung

Pagenfrisur, Matrosenkragen und ein Bildausschnitt, wie aus einem Selfie. Nur wenige Selbstporträts existieren von Suzanne Duchamp. In diesem zeigt sie sich als «Neue Frau». 

Suzanne Duchamp, Autoportrait, 1922

Der hellblaue Hintergrund und die lachsrosa Bluse stehen im spannungsvollen Farbkontrast zueinander. Klar umrissen sind die Konturen des Selbstporträts, das dunkle Haar, die Gestalt und Gesichtszüge treten deutlich hervor. Die Darstellung ist zurückhaltend, auf das Wesentliche reduziert. Suzanne Duchamp schaut an uns Betrachtenden vorbei, und erzeugt keinen Blickkontakt, wie es bei Selbstporträts meist üblich ist. Wahrscheinlich orientiert Duchamp sich bei Pose und Ausdruck an einer Fotografie, die sie in ähnlicher Pose zeigt. Ihre modische Kleidung ist Zeichen der sogenannten «Neuen Frau», die sich verwegen männlich zugeschriebene Attribute aneignet. Dadurch vermittelt sie Selbstbewusstsein, Entschlossenheit und Zugewandtheit zur Moderne. 

Humor und Karrikatur

Eine feinsinnige wie auch spöttische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konventionen: Anders als ihre männlichen Dada-Kollegen, deren Provokationen oft laut und direkt waren, wählt Duchamp subtile Mittel. 

Die Zuwendung Duchamps zu einer eigenwilligen figurativen Malerei ist nicht zuletzt Ausdruck ihres künstlerischen Selbstverständnisses: Statt weiterhin in Künstlergruppen auszustellen, tritt sie ab 1923 vermehrt eigenständig in Erscheinung und erkundet neue Formen weiblicher Bildsprache. In Arbeiten wie «Sur le banc», auf deutsch «Auf der Bank», «Soubrette dans le jardin», übersetzt als «Operettensängerin im Garten», und «La noce», im Deutschen «Die Hochzeit», offenbart Suzanne Duchamp Humor, Ironie und die Nähe zur Karikatur. Ihr Humor ist nicht bloß dekorativ – er unterwandert, stellt in Frage und befreit.

Suzanne Duchamp, Sur le banc, um 1923

Die Figuren auf der Bank wirken distanziert und aneinandergereiht, ihre steife Körperhaltung auf beinahe naive Art inszeniert. Die Formensprache ist reduziert, fast kindlich, und erinnert an ländliche Genreszenen. 

Suzanne Duchamp, Soubrette dans le jardin, um 1923

Die Dienstmagd wird in einer eigentümlichen Szenerie gezeigt, in der sich Pflicht und Müßiggang gegenüberstehen. Durch die Perspektive in Draufsicht wirkt die Figur entrückt, ihre Bezeichnung als «Soubrette» lässt an ein Bühnenszenario denken. 

Suzanne Duchamp, La Noce, 1924

Das Ritual der Hochzeit wird zur Groteske, die Feier zur Farce und das soziale Ereignis zur Bühne absurder Gesten. Die Figuren erscheinen wie Marionetten – schematisch, karikaturhaft. Duchamp stellt ein ironisches Schaubild bürgerlicher Konventionen dar. 

Neue Bildwelten

Wild wachsende Kakteen, phantasievolle Unterwasserwelten und Landschaften in leuchtenden Farben. In Südfrankreich erkundet Suzanne Duchamp neue Themen in politisch schwierigen Zeiten. 

Der Zweite Weltkrieg markiert für Suzanne Duchamp einen tiefgreifenden Einschnitt – persönlich wie künstlerisch. Über ihr Schaffen während dieser Jahre ist nur wenig überliefert. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Jean Crotti zieht sie sich größtenteils nach Südfrankreich und in ländliche Gegenden zurück. Immer wieder sind auch ihre Brüder Marcel Duchamp und Jacques Villon mit von der Partie.  
Nach 1945 erhält Suzanne Duchamp neue Ausstellungsmöglichkeiten und unternimmt viele Reisen ins Ausland. In dieser zurückgezogenen Lebensphase wendet sich Duchamp dem Alltäglichen zu: Ihre Gemälde zeigen nun vermehrt Szenen aus dem unmittelbaren Umfeld, vor allem Landschaften, die sie in leuchtenden, oft unnatürlichen Farben interpretiert.

Suzanne Duchamp, Sans titre (Les colombes), um 1928

Mit raschen Pinselstrichen entsteht in einem Spektrum von grünen und blauen Tönen eine lebhafte Kakteenlandschaft. Die titelgebenden Tauben im Hintergrund lassen vermuten, dass es sich um einen angelegten Garten handelt.

Suzanne Duchamp, Sans titre (Paysage sous-marin), um 1935

Duchamp experimentiert mit Farbwirkungen: Die Rottöne stechen in dieser Unterwasserwelt aus den Naturtönen hervor und lenken den Blick auf Korallen und See-Anemonen.

Suzanne Duchamp, Jean Crotti à son chevalet, 1950

Das Porträt ihres malenden Ehemanns gestaltet Duchamp in Pastellfarben mit markanten Grüntönen. Der Pinsel über seinem Kopf zeichnetet den Künstler bei der Arbeit wie ein Heiligenschein aus.

Einflüsse des Informel

«Le monde souterrain», auf deutsch «Die Unterwelt», ist eine innere Schau: Es spiegelt eine Welt, die im Verborgenen liegt – psychisch, emotional, vielleicht auch gesellschaftlich. Das Sichtbare wird zum Symbol innerer Zustände.

Suzanne Duchamp, Le monde souterrain, 1961

In den 1950er-Jahren wird Suzanne Duchamps Beitrag zur Avantgarde zunehmend gewürdigt – insbesondere ihre kraftvolle Verbindung von Malerei, Poesie und Collage. Mit dem Tod Crottis im Jahr 1958 intensiviert sich ihre Hinwendung zur Abstraktion. Das Spätwerk «Le Monde souterrain» steht exemplarisch für ihre Auseinandersetzung mit Farbe, Linie und der Tiefe des Daseins. 
Bis zu ihrem Tod 1963 bleibt Suzanne Duchamp künstlerisch aktiv – kompromisslos suchend, experimentierend, jenseits gängiger Konventionen.  
Das späte Gemälde der Künstlerin ist ein Werk, das tief in ihre symbolische und persönliche Bildsprache eintaucht. In einem reduzierten, beinahe traumartigen Stil zeigt Duchamp eine geheimnisvolle Unterwelt, ein Reich, das sich der realen Welt entzieht. Die düstere Komposition wirkt abstrakt, doch lassen sich felsartige Formen, und dynamisch in die Tiefe weisende Strukturen erkennen. 

Power-Couple Duchamp & Crotti

Outro

Als Frau in der männlich dominierten Avantgarde des 20. Jahrhunderts findet Suzanne Duchamp ihren eigenen Weg zwischen Dada, Symbolismus und persönlichen Bildthemen. 
Zeit ihres Lebens bleibt Suzanne Duchamp unermüdlich kreativ – stets auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen jenseits des Bekannten, ihre Kunst immer wieder neu erfindend. In all ihren Schaffensphasen zeichnen Ihre Werke sich durch ihren unverkennbar eigenständigen Stil und ihre persönliche Interpretation internationaler Kunstströmungen aus. 

Suzanne Duchamp, Sans titre (Autoportrait en profil au chat), um 1920

Verpassen Sie nicht diese Zeichnung in der Ausstellung! Mit fließenden Linien verbindet Suzanne Duchamp ihr Selbstporträt mit dem Lautsprecher eines Grammophons und dem zierlichen Kopf einer Katze. 

Erleben Sie bis 11. Januar 2026 das vielfältige Werk dieser einzigartigen Künstlerin – in der ersten Überblicksausstellung Deutschlands.