Kapitel 2

Louise Norton-Varèse, Edgard Varèse, Suzanne Duchamp, Jean Crotti, und Mary Reynolds (on links nach rechts), 1924
« Obwohl Dada in seiner Zeit als ‹Farce› galt, war es tatsächlich ein heilsames Abenteuer für Kunstschaffende, erlaubte es ihnen doch, frei zu atmen. »
Suzanne Duchamp

Dada in Zürich

Dada entwickelt sich als kreative Protestform gegen Krieg und Militarismus, gegen die Rationalisierung der Kunst und die Mechanisierung der Welt.

In der neutralen Schweiz bündeln Künstler*innen und Intellektuelle ihre kreativen Kräfte, um der bis dato ungekannten Grausamkeit des Krieges zwischen den ringsum liegenden Ländern entgegenzutreten.
Besonders Zürich gleicht schon kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs einem kosmopolitischen Schmelztiegel. Am 5. Februar 1916 eröffnen Hugo Ball und Emmy Hennings dort die Künstlerkneipe «Cabaret Voltaire».

Die Künstlerkneipe «Cabaret Voltaire», 1916

Fortan finden unter der artistischen Leitung Hugo Balls allabendlich Veranstaltungen voller turbulent-anarchischer Manifestationen statt, die mit radikalen formensprachlichen, gattungstechnischen und lyrischen Neuerungen einhergehen. Diese bilden nicht nur die Basis einer neuen künstlerischen Entwicklung, sondern stehen programmatisch für die drängende Forderung vieler Kunstschaffender nach einem Neuanfang, nach einem unumkehrbaren Bruch mit herrschenden gesellschaftlichen Ordnungen und künstlerischen Traditionen – Dada ist geboren.

Doppelsinnige Lautgedichte, absurde Parodien und Darbietungen von simultan vorgetragenen Texten in verschiedenen Sprachen finden ebenso ihren Raum wie Tänze in improvisierten Kostümen, Ausstellungen moderner Kunst, Darbietungen experimenteller Musik und spontane Aktionen, auch im Straßenraum. Der Ewigkeitsanspruch der Kunst weicht einer performativen Inszenierung von Wirklichkeit. Die Collage, Sinnbild für die Zersplitterung der Welt, aber auch für die Montage neuer, eigenständiger Wirklichkeiten, erwächst zur bevorzugten Kunstform – in Sprache, Musik und bildender Kunst.

Man Ray, Portrait von Tristan Tzara, um 1921

Tristan Tzara verfasst das wegweisende Dada-Manifest von 1918. Darin definiert er Dada als radikale Anti-Kunst, ohne festes Programm, und propagiert das künstlerische Experimentieren mit Zufall und Provokation. Durch internationale Kontakte trägt er maßgeblich zur Verbreitung Dadas bei.

Nic Aluf, Portrait von Sophie Taeuber-Arp mit Dada-Kopf, 1920

Sophie Täuber-Arp löst mit ihren Werken die Grenzen zwischen angewandter und bildender Kunst auf und entwickelt radikal neue Gestaltungskonzepte. Als multidisziplinäre Künstlerin verbindet sie Malerei, Skulptur, Tanz und Design, wodurch sie den Dadaismus in Zürich entscheidend mitprägt. Zudem spielt sie eine zentrale Rolle bei Performances im Cabaret Voltaire und setzt sich für die Emanzipation von Künstlerinnen innerhalb der Bewegung ein.

Hugo Ball beim Vortrag seiner «Verse ohne Worte», 1916

Hugo Ball prägt mit seinen Lautgedichten eine völlig neue, absurde und provokative Kunstform, die traditionelle Sprache und Formen radikal in Frage stellt. Als organisatorischer Kopf des Cabaret Voltaire definiert er damit das Fundament der Dada-Bewegung als Auflehnung gegen gesellschaftliche Konventionen, Logik und bürgerliche Ästhetik. Seine Abkehr von klassischen Kunstrichtungen und seine Erfindung der «Verse ohne Worte» gelten bis heute als bahnbrechend.

Hans Arp, Selbstportrait mit «Nabel-Monokel», 1926

Hans Arp ist ebenfalls Mitbegründer des Cabaret Voltaire, wo er die anti-konventionelle Kunst durch Zufallstechniken, spielerische Zerstörung und Sinnlosigkeit prägt. Arps wegweisende Collagen und Reliefs zertrümmern die traditionelle Bildsprache und entwickeln eine einzigartige Form der organischen Abstraktion.

DADA in Berlin

Nach Ende des Ersten Weltkriegs ist Berlin politisiert – ein Pulverfass, in dem sich die Dada-Bewegung wie ein Feuerwerk entzündet.

1918 proklamiert Richard Huelsenbeck in der Berliner Sezession das «Dadaistische Manifest». Mit John Heartfield, George Grosz und etlichen anderen ruft er den «Club Dada» ins Leben, der sich in zwölf Veranstaltungen manifestiert. Die «Erste Internationale Dada-Messe» 1920 bildet den Höhepunkt der Aktivitäten. Dada Berlin zeichnet sich durch eine viel deutlicher propagierte politische Ausrichtung aus als in Zürich, Paris und New York. Die aktionistisch geprägte Gruppe positioniert sich sehr klar revolutionär und anarchistisch – ihre Ziele sind nicht auf eine ästhetische Neuordnung gerichtet, sie arbeiten auf einen politischen Bruch hin.

Hannah Höch

Hannah Höch gilt als Erfinderin der sozialkritischen Fotomontage, mit der sie die damalige bürgerliche Kultur und Gesellschaft satirisch kritisiert. Höch setzt mit ihren Arbeiten das rebellische Dada-Konzept des Anti-Stils um und trägt wesentlich dazu bei, Dada als Kunstform mit einer starken gesellschaftspolitischen Haltung zu prägen.

Max Ernst, Le Punching Ball ou l’immortalité de Buonarroti (dt.: Der Punchingball oder die Unsterblickeit von Buonarroti), 1920

Max Ernsts dadaistische Werke zeigen sich beeinflusst von Expressionismus und Futurismus. Er schafft vor allem Fotocollagen und -montagen, die als Initialzündung für seine Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten gelten. Dabei kombiniert er unterschiedliche Techniken zu verwirrenden Bildern und thematisiert oft das Absurde, Irrationale und Zufällige.

George Grosz in seinem Berliner Atelier vor seinem Gemälde «Stützen der Gesellschaft», um 1926

Georg Grosz nutzt Dada als radikale Protestform gegen Krieg, Bürokratie und konservative Werte, wobei er gesellschaftliche und politische Missstände durch provokative, oft satirische Kunstwerke und Aktionen anprangert. So wird er auch als «Propagandada» bekannt. Sein Werk beinhaltet Montagen, Karikaturen und polarisierende Darstellungen, die den Wahnsinn und die Absurditäten der Zeit aufzeigen.

John Heartfield, Selbstportrait, 1920

Gemeinsam mit George Grosz und anderen entwickelt John Heartfield die Fotomontage als künstlerische Ausdrucksform, die er politisch nutzt, um gegen Krieg, Ausbeutung und Barbarei zu protestieren. Heartfield sieht die Dadaisten als radikale Gegner der Ausbeutung und setzt sich vehement gegen die damaligen gesellschaftlichen und politischen Zustände ein, wobei seine Arbeit eine Verbindung zwischen dadaistischer Kunst und politischem Bewusstsein herstellt.

Dada in Paris

1920, nach dem Ende des 1. Weltkrieges und mit der Ausweisung der Geflüchteten, verschiebt sich das Dada-Zentrum von Zürich nach Paris.

Mit Tristan Tzara war kurz zuvor sogar einer der Begründer von Dada von Zürich nach Paris gezogen. Inmitten des dynamischen Umfelds von Dada in Paris bewegt sich auch das frisch vermählte Paar Suzanne Duchamp und Jean Crotti. Besonders eng sind die Freundschaften zu Francis Picabia und seiner Partnerin Germaine Everling, die kurz zuvor aus New York übersiedelt waren. Auch mit Marcel Duchamp, der in dieser Zeit zwischen Paris und New York pendelt, besteht reger Kontakt.
Bereits 1921 deutet sich unter dem Titel «Tabu», dem Namen, den Duchamp und Crotti ihrer neuen Kunstbewegung geben, jedoch eine Ablösung von den Dadaisten an. Tabu führt die Grenzen sprengenden Ambitionen von Dada in eine stärker metaphysisch geprägte Richtung.
1923 endet Dada Paris im Eklat: Bei einer Soirée, auf der Tristan Tzaras Stück «Le coeur à gaz», auf deutsch «Das Herz aus Gas», mit Kostümen von Sonia Delaunay aufgeführt wird, entfesselt sich ein Handgemenge mit den Surrealisten um André Breton. Zwischen Breton, Picabia und Tzara scheinen die Differenzen schließlich nicht mehr überbrückbar.

Paul Thompson, Jean Crotti in seinem New Yorker Atelier, um 1915

Bereits während des Ersten Weltkriegs im Exil in New York beginnt Jean Crotti in der Malerei experimentell die dadaistischen Prinzipien mit abstrakter Kunst und mit sprachlichen Fragmenten zu verbinden. Zurück in Paris heiratet er 1919 Suzanne Duchamp, mit der er später die Zwei-Personen-Kunstbewegung «Tabu» gründet.

Francis Picabia in seinem Studio in New York, um 1915

Francis Picabia stellt mit seinen «mechanischen Zeichnungen» und humorvoll-provokanten Werken die traditionellen Kunstkonventionen radikal infrage und prägt Dada als «Anti-Kunst». Durch innovative Ansätze wie die Verbindung von Text und Bild, Maschinenmotive und Collagetechniken erweitert er die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten und beeinflusst entscheidend die Pariser und New Yorker Dada-Szene.

André Breton auf dem «Festival Dada» im Theatre de l’Oeuvre in Paris, 1920.

André Breton organisiert provokative Happenings, wie etwa 1921 den bekannten Schauprozess gegen Maurice Barrès, der ein dadaistisches Spektakel darstellt. Breton setzt sich besonders dafür ein, Dada aus der reinen Kunstsphäre herauszuholen und Aktionen stärker auf das reale Leben und gesellschaftliche Verhältnisse zu beziehen. Doch es kommt zum Bruch mit den Dadaisten.1924 verfasst er das «Erste surrealistische Manifest».

Sonia Delaunay-Terk in ihrem Apartment im Boulevard Malesherbes in Paris, 1924

Sonia Delaunay-Terk gestaltet mehrfach Kostüme für Dada-Aufführungen und verkehrt rege in den Avantgarde-Kreisen von Paris. In der Dada-Bewegung tritt sie gegen die traditionellen Geschlechterrollen und die Überhöhung männlicher Beiträge an und wirkte aktiv darauf ein, Geschlechterbilder aufzubrechen.

Dada in New York

Neue Kunst für die Neue Welt – Dada schwappt über den Ozean nach New York.

Im pulsierenden New York der 1910er-Jahre entwickelt sich parallel zu Zürich eine weitere Keimzelle des Dadaismus, in der Normen gesprengt, Geschlechterrollen hinterfragt und der Kunstbegriff neu gedacht werden. Elsa von Freytag-Loringhoven, Beatrice Wood, Marcel Duchamp und Man Ray prägen mit ihren Texten, Publikationen, Fotografien und Kunstobjekten nachhaltig ein neues Kunstverständnis, das die Kunstgeschichte des gesamten 20. Jahrhunderts verändert.

Marcel Duchamp, Portrait multiple de Marcel Duchamp, 1917

Mit seinen sogenannten Readymades stellt Marcel Duchamp den traditionellen Kunstbegriff radikal infrage. Er verwandelt Alltagsgegenstände, wie das berühmte Urinal «Fountain», in Kunstwerke, wodurch die Idee oder das Konzept hinter der Kunst ins Zentrum rückt, nicht mehr das handwerklich hergestellte Objekt.

Elsa von Freytag-Loringhoven beim Tanzen, ca. 1922

Elsa von Freytag-Loringhoven verkörpert Dada als wandelndes performatives Kunstwerk mit Haut und Haar. Ungeachtet der gesellschaftlichen Erwartungen schockiert sie die Menschen auf den Straßen New Yorks mal mit kahl rasiertem Kopf, mal nackt oder mit exzentrischer Kleidung und geräuschvollen Accessoires aus Löffeln oder Tomatendosen. In ihren experimentellen und ekstatischen Texten thematisiert sie provokativ und detailreich das weibliche Verlangen und fordert damit seinerzeit die normativen Geschlechterrollen heraus.

Beatrice Wood (rechts) mit Marcel Duchamp (links) und Francis Picabia (mitte), 1920er

Beatrice Wood ist zusammen mit Marcel Duchamp Mitbegründerin des Kunstmagazins «The Blind Man», einer der ersten Dada-Manifestationen in New York. Wood prägt die Bewegung entscheidend mit, indem sie mit provokanter, experimenteller Kunst gegen gesellschaftliche Normen rebelliert, Geschlechterrollen in Frage stellt und so die künstlerischen wie gesellschaftlichen Diskurse nachhaltig erweitert.

Charles Fraser, Man Ray with Photokina-Eye, 1960

Man Ray hinterfragt Kunsthierarchien und propagiert künstlerische Freiheit, Kreativität und Humor als zentrale Prinzipien der Dada-Bewegung. Seine experimentelle Fototechnik «Rayographie», bei der er ohne Kamera Objekte direkt auf lichtempfindlichem Papier belichtet, ist ebenso revolutionär, wie seine Ready-mades.

Der Coup des 20. Jahrhunderts: Das Readymade

Das Grundkonzept des Readymades ist simpel: Man nehme einen gefundenen Alltagsgegenstand und deklariere ihn zum Kunstwerk.

Eine Fotografie von Marcel Duchamp aus seinem tragbaren ‹Miniatur-Museum›, der sogenannten «La boîte en valise» (auf deutsch «Die Schachtel im Koffer»), und ein Gemälde nach dieser Fotografie von Suzanne Duchamp zeigen eines der ersten gemeinsamen Readymades. Nachdem Suzanne Duchamp und Jean Crotti am 14. April 1919 in Paris geheiratet hatten, schickt Marcel Duchamp ihnen als Hochzeitsgeschenk Anweisungen, wie sie das Readymade ausführen sollten. Später erzählt er über das kollaborative Werk: «Es war ein Geometriebuch, das er (Crotti) an Fäden auf den Balkon seiner Wohnung in der Rue Condamine hängen musste; der Wind sollte durch das Buch wehen, seine eigenen Aufgaben auswählen, die Seiten umblättern und herausreißen.»

Suzanne Duchamp, Le readymade malheureux de Marcel, 1920
Marcel Duchamp, Le readymade malheureux (dt.: Das unglückliche Readymade) aus La boîte en valise (dt.: Die Schachtel im Koffer), 1959

Das Readymade