DAS DIGITORIAL® ZUR AUSSTELLUNG

RETROSPEKTIVE

« Suzanne Duchamp macht intelligentere Dinge, als zu malen. »
Francis Picabia

Künstlerische Eigenständigkeit und Freiheit, ein innovativer Umgang mit Materialien und Medien sowie ein breites künstlerisches Spektrum, das sich kunsthistorischen Kategorien entzieht – so lässt sich Suzanne Duchamps Gesamtwerk charakterisieren.

Die SCHIRN widmet der Pionierin der Dada-Bewegung Suzanne Duchamp (1889–1963) die weltweit erste, umfassende Einzelausstellung. Präsentiert wird das 50 Jahre umfassende Schaffen der Künstlerin, die in den 1910er- und 1920er-Jahren maßgeblich zur Entwicklung des Dadaismus beigetragen hat. Obwohl Duchamps Werke in weltbekannten Sammlungen vertreten sind und sie zu Lebzeiten bestens in Kunstkreisen vernetzt war, stand ihre künstlerische Bedeutung lange im Schatten ihrer Brüder Marcel Duchamp, Raymond Duchamp-Villon und Jacques Villon sowie ihres Ehemanns Jean Crotti. Entdecken Sie jetzt im Digitorial Duchamps Werke, darunter experimentelle Collagen, figurative Darstellungen, abstrakte Gemälde, Fotografien und Drucke.

Kapitel 1

Suzanne Duchamp, Autoportrait (Réflexion dans un miroir, rue la Condamine), 1917

Durch die Kombination von gefundenen, fertig produzierten Objekten, poetischen Inschriften und geometrischen Formen schafft Suzanne Duchamp ab 1916 Werke mit einzigartiger, subtiler Bildsprache.

Mitte der 1910-er Jahre unterhält Duchamp über ihren Bruder Marcel Duchamp enge Verbindungen zu New Yorker Künstler*innen, die mit unkonventionellen künstlerischen Materialien und gefundenen Objekten experimentieren und so die Vorstellungen dessen, was ein Kunstwerk ausmacht, in Frage stellen. Der transatlantische Austausch wirkt auf ihre eigene künstlerische Entwicklung inspirierend und motiviert Duchamp, neue Möglichkeiten in der Malerei für sich zu erschließen.

« Von den unterschiedlichen Perioden, durch die meine Malerei gegangen ist, war die ‹Dada-Zeit› für mich wohl die aufregendste und reichste, was die gelernten Dinge anbelangt. »
Suzanne Duchamp

Ungewöhnliche Materialien

Glasperlen, Schnüre oder zerknüllte Alufolie – Suzanne Duchamps Werke faszinieren wegen der charakteristischen Verschmelzung von Malerei, Poesie und Collage ebenso, wie durch den Einsatz ungewöhnlicher künstlerischer Materialien.

Bald verbindet auch sie in ihren Kunstwerken unorthodoxe und gefundene Elemente wie Uhrwerke, Perlen, Metallpapier und -folien sowie Schnur, womit sie die Konventionen von Malerei hinterfragt und das Potenzial dieses scheinbar traditionellen Mediums erweitert. Sie baut poetische Sprache in ihre Bildkompositionen ein, besonders in die Titel ihrer Arbeiten, die als gemalte Inschriften auch Teil der Werke selbst werden. Diese hybride Form der Malerei ist Duchamps bedeutendster Beitrag zu Dada.

Suzanne Duchamp, Un et une menacés, 1916

In dieser Materialcollage, einem frühem Hauptwerk Duchamps, konstruiert die Künstlerin eine mechanische Struktur aus gefundenen Materialien, die der Arbeit eine dreidimensionale Qualität verleihen. Zentral im Bildraum stellt sie einer rechteckig umrissenen Form ein diagonal lagerndes Gerüst gegenüber, von dessen Spitze ein Schalengreifer hängt, der aus silberfarbenem Papier ausgeschnitten ist. Der Titel «Un et une menacés», der sich auf Deutsch mit «Ein und Eine Bedrohte» übersetzen ließe, bleibt rätselhaft.

Suzanne Duchamp, Studie für «Un et une menacés» (verso), 1916

Zwei Vorstudien auf Vorder- und Rückseite desselben Blattes zeigen den Entstehungsprozess: Zuerst arbeitet Duchamp an den geometrischen Maschinenformen und sammelt Ideen, die hier in einzelnen Elementen zu sehen sind.

Suzanne Duchamp, Studie für «Un et une menacés» (recto), 1916

Auf der anderen Seite der Vorstudie führt Duchamp die einzelnen Formen zusammen, so dass sie dem finalen Werk schon sehr nahe sind.

Avantgarde und Zeitgeist

Gerüste aus Stahl und Eisen, Maschinenteile und andere Versatzstücke der modernen Industriegesellschaft spielen in Duchamps dadaistischen Materialcollagen zwischen 1916 und 1922 eine wichtige Rolle.

Durchaus lassen sich motivisch Parallelen auch bei anderen Avantgarde-Strömungen finden. Zahlreiche Künstler*innen feiern – teils euphorisch – die technischen Neuerungen des noch jungen 20. Jahrhunderts. In den Werken der Dadaisten wird der Fortschrittsglaube und der Maschinenmythos ihrer Epoche jedoch ironisiert und dekonstruiert: Statt «Maler» und «Genies» wollten sie nun «Monteure» und «Konstrukteure» sein, den künstlerischen Prozess entpersönlichen und das Künstler-Sein grundsätzlich in Frage stellen.

Duchamps Werk «Multiplication brisée et rétablie», auf deutsch «Zerbrochene und wiederhergestellte Multiplikation», ist zwar eine Collage, doch es dominiert der malerische Raum voller «kosmischer» Kreise und Sterne. Gerade diese Arbeit lässt eher an den russischen Konstruktivismus denken als an den Dadaismus und ist ein Kennzeichen für Duchamps und Crottis eher mystische Interpretation von Dada, der sie zur Selbstabgrenzung den Namen «Tabu Dada» geben.

Suzanne Duchamp, Multiplication brisée et rétablie, 1918/19

Durch gemalte Worte, collagierte Materialien und Symbole konzipiert Suzanne Duchamp ein Gemälde, das gleichzeitig ein Gedicht ist. Die in senkrechten Wellenlinien angeordneten Worte lassen sich folgendermaßen übersetzen: «und der Spiegel würde brechen / das Gerüst würde einstürzen / die Ballons würden davon fliegen / die Sterne würden erlöschen / etc…». Die französischen Worte enthalten Mehrdeutigkeiten, die sich in der Übersetzung nur unzureichend wiedergeben lassen. Sie verweisen auf die Formen dieser ungewöhnlichen Stadtlandschaft, deren zentrales Element der Eiffelturm ist.

Zwischen 1909 und 1911 malt Robert Delaunay den Eiffelturm in mehreren Variationen. Das damals höchste Gebäude der Welt verkörpert den technischen Fortschritt und die Dynamik der Großstadt – zentrale Themen der Avantgarde. Delaunay zerlegt den Turm in Facetten und löst ihn zunehmend auf, die Mehransichtigkeit und die Farbpalette lassen Einflüsse des zu jener Zeit hoch gehandelten Kubismus aufscheinen.

Robert Delaunay, La Tour Eiffel, 1909-1910
Wladimir Tatlin und ein Assistent vor dem Modell des Monuments für die Dritte Internationale, 1921

Das «Monument der Dritten Internationale», ursprünglich «Denkmal für die Revolution», nach Entwürfen des russischen Künstlers Wladimir Tatlin sollte als 400 m hoher Turm realisiert werden. Ein Modell wurde 1920 umgesetzt. Obwohl nie tatsächlich realisiert, gilt der Architekturentwurf als ein Schlüsselwerk der sowjetischen Avantgarde und sorgte auch in europäischen Kunstkreisen für Aufsehen.

  • Suzanne Duchamp, Usine de mes pensées, 1920
  • Suzanne Duchamp, Fabrique de joie, 1920
  • Jean Crotti, Laboratoire d’idées, 1921

Eine Art Architektur-Utopie zeigen die Arbeiten «Usine de Mes Pensées» und «Fabrique de Joie» – in der Übersetzung «Fabrik meiner Gedanken» und «Fabrik der Freude». Die Vorstellungskraft und die Gefühlswelt der Künstlerin nimmt in diesen Werken sinnbildlich architektonische Gestalt an – als Produktionsstätte in einem Industriegebäude. Die besondere Vorstellung der Verbindung von Mensch und Industrie beschäftigt wenig später auch Jean Crotti im Aquarell «Laboratoire d’idées», auf deutsch «Labor der Ideen». Es sind beispielhafte Werke, die den wechselseitigen Einfluss des Künstlerpaares Duchamp-Crotti deutlich machen. «Nachdem er die Maschine nach seinem eigenen Abbild geschaffen hatte, machte er die menschlichen Ideale maschinomorphisch», formulieren Jean Crotti und Suzanne Duchamp schließlich mit Paul Haviland für Tabu Dada.

Ein persönlicher Kosmos

Das Profilbild des Ehemanns, Pfeil und Bogen und zwei Finger, die den Bogen spannen – Eine Kombination von Elementen, die zum Rätseln einlädt.

In einem autobiografischen Text aus den 1930er-Jahren schreibt Suzanne Duchamp: «1916 gab sie die gegenständliche Malerei für die subjektive Malerei auf […]». Das Werk «L’Ariette d’oubli de la chapelle étourdie» ist eine typische Arbeit aus dieser Periode. Die ungewöhnlichen Materialien, die Duchamp verwendet, unter anderem ein Holzrelief mit einem eingesetzten Glasauge, sowie der rätselhafte Titel, der so viel bedeutet wie «Vergessene Ariette der benommenen Kapelle», lassen einen verborgenen Symbol- und Sinngehalt erahnen, der von den Betrachtenden jedoch nicht entschlüsselt werden kann.

Suzanne Duchamps Lebensstationen